Ewigkind

 


Es weht ein sanfter Wind

Um das grosse Kind

Das auf dem Hügel dort

Lauscht dem Lebenswort

 

Die Welt liegt unter Nebel

Das Kind es rafft die Segel

Und sein Lebensboot

Fährt von Ort zu Ort

 

Es sieht viel Not und Leiden

Das möcht es gerne meiden

Doch das Boot fährt weiter

Kreuzt Tränen Blut und Eiter

 

Dann wiederum ganz plötzlich

Das Kind an Licht ergötzt sich

Der Freude und manch Schönem

Kann es auf einmal frönen

 

Von vielen tiefen Schmerzen

In seinem alten Herzen

Kann es hier genesen

In dieses Raumes Wesen


Doch jetzt schon ist vorbei die Rast

Das Schiff trägt weiter seine Last

Das Herz ist jung geworden

Und macht sich keine Sorgen

 

Wieder sieht es Leiden

Es will es nicht mehr meiden

Im Herzen wohnt Vertrauen

Auf dieses tut es bauen

 

Das Schifflein kreuzt die Wellen

Und wenn auch Hunde bellen

Im Sturm und in der Nacht:

 

Das Ew‘ge hat die Macht                

Das Ew‘ge ist die Macht  

Ewigkind lebt die Macht

 

   Die Ewigkeit spricht: Komm heraus, Kind, aus deinem Gefängnis und tritt auf den Berg vor das Ewige! Und ein grosser, starker Wind stürmt dem Ewigen voran, das Ewige aber ist nicht im Winde. Die Erde bebt, aber das Ewige ist nicht im Erdbeben. Ein Feuer lodert; aber das Ewige ist nicht im Feuer. 

   Jetzt aber hörst du die Stimme eines sanften Säuselns, und du erkennst: Es weht ein sanfter Wind um das grosse Kind, das auf dem Hügel dort lauscht dem Lebenswort. Und das grosse Kind, so wird dir bewusst, das bist du selber. Du siehst dich stehen auf dem Berg und dein Blick geht über die Erde bis zum Horizont, und du siehst: Die Welt liegt unter Nebel.

   Sie liegt unter der undurchdringlichen Schicht des Nebels ihrer verblendeten Unwissenheit, ihres Zweifels, ihrer Begierden, ihrer Aversionen.

   Nun sehe ich, Uodal, der ich deine Heimat bin, über Zeit und Raum hinweg dich, der du dies hier liest, ein kleines Boot besteigen, ein Segelschiffchen, und staunend sehe ich, wie du die Taue, die dein Boot am Ufer von Zeit und Raum festhalten, löst und auf das Nebelmeer in See stichst.

   Und ich sehe weiterhin: Das Kind es rafft die Segel und sein Lebensboot fährt von Ort zu Ort. Und wie auf einer Gletscherwanderung hier und dort sich kleine und grosse tiefe Spalten im Gletscher zeigen, so sehe ich das Kind, dich, in seinem Segelschiffchen kleine und grosse Löcher in der dicken Nebelschicht umschiffen und von der Sicherheit seines Schiffchens aus kann es durch diese Öffnungen eine unverblendete, zweifelsfreie, gier- und hasslose Sicht auf die Welt gewinnen:

   Es sieht viel Not und Leiden, das möcht’ es gerne meiden, doch das Boot fährt weiter, kreuzt Tränen, Blut und Eiter. All das sieht es, was wir sehen, wenn wir TV schauen, im Internet surfen, Zeitung lesen und Radio hören. Eine Mördergrube scheint ihm die Welt zu sein, eine Hinrichtungsstätte, ein Grauen.

    Dann wiederum, ganz plötzlich, löst es seinen Blick aus der abgründigen Tiefe der Welt und lenkt ihn über das in der Sonne strahlend-glitzernde Licht des Nebelmeers und das Kind an Licht ergötzt sich, ergötzt sich an der freien Sicht auf den Raum unter dem strahlend blauen Himmel über dem Nebel des Abgrunds der Welt.

   Schon gelangt sein Schiffchen wieder zu einem aufgerissenen Loch im Meer des Nebels der Verblendung und wieder sieht es durch dieses Fenster hinunter in die Welt, staunend erkennt es nun nicht nur mehr Leiden und Tod, sondern ebenso unvermischt mit, aber auch ungetrennt von Leiden und Tod, auch Leidfreiheit und Todlosigkeit. Und indem es nun auf diese Aspekte der Welt fokussiert erlebt es: Der Freude und manch Schönem kann es auf einmal frönen!

   Das Kind erfreut sich an allem, was es auf diese Weise an leidbefreienden und todüberwindenden Gedanken, Worten und Taten in der Welt zu erkennen vermag. In Worten des bereits einmal zitierten Keiji Nishitani:

 

   „In der aus unserem Ursprung quellenden Spontaneität, die in einer solchen Umkehr hervorbricht, wird unser Tun zum Tun in elementarer Selbstheit, vollkommen unbelastet und authentisch. Aus diesem Tun ergibt sich die Verantwortung für jeden ‚Nächsten‘, für alles ‚Andere‘, wen und was auch immer, ja, es ist etwas, das, wie wir noch sehen werden, eine unendliche Aufgabe übernommen hat. Es ist Tun auf dem Standort des ‚Selbst-los‘, dem Standpunkt der ‚nicht-Zweiheit-von-Selbst-/und-Anderem‘, was ein buddhistisches Grundwort ist.

    Dort, wo sie zum Spiel wird, nimmt unsere Aktivität zugleich den Charakter des Ernstes im ursprünglichen Sinn an. In Wahrheit ist das Spiel das ungebundendste und sorgenfreieste da, wo sich das Selbst als solches im Nicht-Selbst ereignet; und zugleich gibt es keinen tieferen und rigoroseren Ernst. Auf der Ebene ‚dharmahafter Natürlichkeit‘ (honi jinen), im Zustand der natürlichen und spontanen Übereinstimmung mit dem Dharma, sind alle Dinge so beschaffen. In dem Versuch, einen solchen primären Seinsmodus anzudeuten, hat man seit alters oft das Bild des Kindes gebraucht. In der Tat ist beim Kind das selbstvergessene, unschuldige Spiel als solches die ernsthafteste Aktivität.“

 

   In dieser lebhaften Natürlichkeit, in der spontanen Übereinstimmung mit der Natur und ihren Gesetzmässigkeiten, mit dem Leben in dessen Soheit, erlebt nun das grosse Kind in seinem Schiffchen: Von vielen tiefen Schmerzen in seinem alten Herzen kann es hier genesen, in dieses Raumes Wesen.

   Doch jetzt schon ist vorbei die Rast, das Loch, durch welches es unverhofft statt Leiden und Tod, Leidbefreiung und Todlosigkeit zu sehen vermochte, hat sich wieder geschlossen und du, mein Leser, erkennst: Nichts lässt sich halten, nichts, das bleibt am selben Ort in Ewigkeit.

   Und das Schiff trägt weiter seine Last, das Kind, das du selber bist. Das Herz aber, dein Herz, so empfindest du, ist jung geworden, und zweifelsfrei erkennst du: Es macht sich keine Sorgen.

   Ich aber, als deine Heimat, die Wahrheitsgegenwart, sehe das Kind, das du bist, jubelnd in seinem Boot, weil es gerade eben ein vollkommen sorgloses Leben zu erleben vermag.

   Wieder sieht es Leiden, doch erstaunlicherweise sorgenfrei, und es will es nicht mehr meiden, es entwickelt keine Aversion gegen das Leiden, fällt nicht in Wut deswegen, auch nicht in Trauer oder Frustration, denn im Herzen wohnt ein neues Vertrauen, auf dieses tut es bauen.

   Das Schifflein kreuzt die Wellen, und wenn auch Hunde bellen im Sturm und in der Nacht: Das Ew’ge hat die Macht, so erkennst du nun.  Ja, und ich sage dir: Das Ew‘ge ist die Macht, und du, das Kind im Lebensboot, das Ewigkind, lebt die Macht.


   „Macht beruht auf der Art von Wissen, das einer hat. Was bedeutet das Wissen von Dingen, die sinnlos sind? Sie werden uns nicht vorbereiten auf unsere unvermeidliche Begegnung mit dem Unbekannten. Der Mensch macht sich auf den Weg zum Wissen, wie er in den Kampf zieht: hellwach, mit Furcht, Achtung und absoluter Zuversicht. Auf andere Art sich dem Wissen zu nähern oder in den Kampf zu ziehen ist ein Fehler, und wer ihn begeht, wird keine Zeit mehr haben, ihn zu bereuen. Wenn ein Mensch diese vier Voraussetzungen erfüllt – hellwach zu sein, Furcht, Achtung und absolute Zuversicht zu haben –, dann gibt es keine Fehler, für die er einstehen müsste; unter solchen Bedingungen verlieren seine Taten die Unbesonnenheit der Taten eines Narren. Scheitert solch ein Mensch oder erleidet er eine Niederlage, hat er nur ein Gefecht verloren, und darüber gibt es kein klägliches Bedauern. Ein Krieger sorgt sich nie um seine Furcht. Lieber denkt er an das Wunder, Energie fliessen zu sehen! Der Rest ist Einbildung, nichts als unnötige Einbildung.“

   „Die nachhaltigste Art zu leben ist der Weg des Kriegers. Ein Krieger mag grübeln und nachdenken, bevor er eine Entscheidung trifft, aber sobald er sie getroffen hat, geht er seinen Weg, frei von Grübeleien oder Gedanken; es erwarten ihn stets noch tausend andere Entscheidungen. Das ist der Weg des Kriegers.“

   „Ein Krieger denkt an seinen Tod, wenn die Dinge unübersichtlich werden. Der Gedanke an den Tod kann als Einziges unseren Geist stählen.“

   „Bei jedem Wissen, das Macht wird, ist der Tod die zentrale Kraft. Der Tod gibt die letzte Berührung, und was vom Tod berührt ist, wird tatsächlich Macht.“

   „Nur der Gedanke an den Tod gibt dem Krieger die Losgelöstheit, die ihn befähigt, sich allem hinzugeben. Er weiss, sein Tod umschleicht ihn und lässt ihm nicht die Zeit, sich an etwas zu klammern. Darum erprobt er alles und jedes, ohne es zu begehren.“

   „Taten haben Macht. Besonders, wenn der handelnde Krieger weiss, dass diese Taten sein letztes Gefecht sind. Das ist ein sonderbares, verzehrendes Glück, zu handeln im vollen Wissen, dass dies, was immer er tut, seine letzte Tat auf Erden sein kann.“

   (Nagual)

 

   Uodal, der Alte, fühlte es augenblicklich und es zauberte ihm ein trauriges Lächeln auf sein schmales Antlitz, als Melancolia, die traurige Leichtigkeit des Seins, mit ihrem eingerissenen Flügel durch den nasskalten Winterwind angeflogen kam und mit ihren feinen Füsschen auf den Narben seines Herzens landete, und diese für einen Augenblick ganz weich wurden.

Bild: Claudia Eggenweiler

   Mit Tränen in den Augen bat sie den Alten, bei ihm, ihrer Heimat bleiben zu dürfen und ihn nie, nie wieder verlassen zu wollen. Kein Wunsch hätte den Alten tiefer zu berühren vermögen und ihm eine freudigere Traurigkeit schenken können als gerade dieser!

   „Oh ja, geliebte heilige Melancolia“, sprach es in seinem vernarbten Herzen zur traurigen Leichtigkeit des Seins, „bleibe, bleibe meine Liebe, bleibe bei mir und streichle Tag für Tag und Nacht für Nacht mit deinen zierlichen Füsschen und Fingerchen meine Narben, so dass sie ganz weich und geschmeidig werden!“

   „Das werde ich“, sprach Melancolia und richtete sich ein Bettchen her zwischen den Narben, und Uodal, ihre Heimat, lächelte.

   Jetzt sitzt er am Tisch am Fenster, der Alte, nachdem er seit dem Mittag auf dem Bette liegend die Zeit – die Zeit – mit Schlafen und mit Träumen verbracht hat. Uodal, ‚hellwacher Träumer’…

   Erinnerungen, mehr als ein halbes Jahrhundert überbrückend: Der kleine Uodal mit seiner Kindergartengespielin auf dem Dachboden des alten Bauernhauses mitten im Dorfzentrum in Münsingen. Dann in Deutschland, in Gartow, beim Opa, auf dem Meierhof, im Elbholz. Die Natur, die Tiere: Immer stand ihm Deutschland für die Natur, für die Tiere – Heimat.

   Lu hat ihm kürzlich das Gesamtwerk Theodor Storms geschenkt, des ‚Heidedichters’, in diesen Geschichten weht ihm alles entgegen, was er in seinen Kinderjahren dort in sein Herz aufgenommen hatte.

   Uodal sieht sich als kleiner Knabe in der deutschen Heimat seiner Mutter, der uralten (inzwischen verstorbenen) Greisin, die sich ihr Leben lang in diese Heimat zurückgesehnt hat und sie wann letztmals gesehen hat? Vor zwanzig Jahren wohl…, nein, mehr… fünfundzwanzig vielleicht… Sie wird sie nie wieder sehen (und würde sie wohl auch kaum mehr wiedererkennen), vielleicht lebt sie, wie ihr Sohn jetzt gerade, im Geiste dort, bei ihrer ‚Mama’, bei ihrem ‚Papa’.

   „Kurz ist das Menschenleben“, denkt es dem Alten, „kurz und flüchtig“. Er fragt sich, wieso Erinnerungen so wehmütig ausfallen, so traurig, so voller Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, das doch wohl keines gewesen ist… oder doch?

   Uodal sitzt an seinem Schreibtisch am Fenster im Schlafzimmer, die Nacht ist eingekehrt, Wald und Schulhaus schwarze Schatten, ein paar Strassenlampen leuchten wie vierzackige Sterne.

   Er beschliesst, das Tagebuchschreiben für heute zu beenden, in die Küche zu gehen und mit seiner lieben Frau, mit seiner Lu, ein kleines Abendbrot zu sich zu nehmen. Danach vielleicht mit ihr ein oder zwei Durchgänge Rummikub zu spielen und dann einen schönen Film anzuschauen… Abend wards…


   Dass Reto kam, jetzt, im Gefolge der Melancholie, mit dem schönen melancholisch-roman-tischen Text von Tagore, ist ein Zeichen, dass der Alte gerne so entgegen nimmt:

   „Friede, mein Herz,
   lass süss die Zeit des Abschieds sein.
   Lass ihn Vollendung sein, nicht Tod.

   Lass Liebe zur Erinnerung werden
   und Lieder aus dem Schmerz erblühn.

   Lass den Himmelsflug sein Ende finden
   im Flügelfalten überm Nest.

   Lass deiner Hände letzte Zärtlichkeit
   so sanft sein wie die Blüte einer Nacht.

   Halt stille einen Augenblick,
   oh, wunderbares Ende,
   und sage deine letzten Worte hinein
   ins Schweigen.

   Ich neige mich vor dir,
   hoch halt’ ich meine Lampe,
   den Weg dir zu erhellen.“

„Warum“, denkt es Uodal, „warum aber dieses ‚Entweder-Oder’? Warum soll der Tod nicht die Vollendung, die Vollendung nicht der Tod sein dürfen?“ Er sieht den Tod als Vollendung: ‚Nichts weiteres nach diesem hier’. Kein ‚Flügelschlagen überm Nest’, in welchem neues Leiden der Geburt harrt. ‚Nur Leiden entsteht, wo etwas entsteht, nur Leiden vergeht, wo etwas vergeht.’

   Dem Alten denkt es, dass seine buddhistische Prägung wohl zu stark sei, als dass er die Existenz anders denn als leidvoll zu erkennen vermöchte, und er vermag sich nicht vorzustellen, worin denn die Vollendung bestehen sollte, wenn nicht eben im vollständigen Erlöschen der leidvollen Existenz.

   ‚Lass Liebe zur Erinnerung werden und Lieder aus dem Schmerz erblühen’: Ja, das wiederum kann er aus tiefstem Herzen bejahen, der Alte, und so singt er hier und jetzt dieses eine, letzte Lied – vor zwei Tagen begonnen – und sagt seine ‚letzten Worte hinein ins Schweigen’, solange bis dieses, sein letztes Lied, ‚nicht mehr in Worten, sondern im letzten Glühen der erlöschenden Lebenskraft bestehen wird’. Ja.

   Vom Winde verweht: Die Zeit des Werdens ist vorbei, Ent-Werden ist angesagt, Auflösung, Verwehen… Anicca, Vergänglichkeit in ihrer wirklichen Bedeutungsdimension und -tiefe. Kein Raum mehr für Ausflüchte, für ‚ja, aber…’, das Ende aller Illusionen bezüglich Werden und Bestand. Er weiss es, der Alte, Uodal, ebendies ist sie, die Heimat, dies ist Uodal: Die Auflösung (wie die Auflösung eines Rätsels), das Vergehen, das Verwehen, oder, wie auf Kurt Onkens Gedenkstein vor dem Haus der Besinnung zu lesen: ‚Nichts ist, nichts ist je gewesen, nur wähnendes Werden zum wieder Verwesen.’ Oder eben: ‚Asche zu Asche, Staub zu Staub.’

   Die Auflösung: Das Tor zur Dunklen Nacht – die wohl eine dunkle ist, keineswegs aber die schwarze, denn das fahle Licht der Erkenntnis beleuchtet sanft ihren Weg, über den die Melancolia, die traurige Leichtigkeit des Seins, unter reinigenden und befreienden Tränen dahin schreitet ins Ver-Wehen aller (Geburts-) Wehen.

   So nimmt Uodal, der Alte, sich selber als seine wahre Heimat wahr, so ‚malt Maler Herz’ sie ihm in den Geist, wo dieser das so Gemalte, dass so Gedichtete, ausgestaltet zum vollendeten Gemälde, zur vollendeten Dichtung. Die einen kurzen Augenblick vor ihm erscheint – wie der Regenbogen als Brücke zur Unendlichkeit – um im nächsten Augenblick schon zu verwehen, im Ver-Wehen ihren Sinn erfüllend.

   Und der Alte staunt – während der Melancolia die reinigenden Tränen über ihre Wangen kullern – über die Dichtungen der Wahrnehmung und die Gestaltungen des Geistes, während er mutig einen Fuss vor den andern setzt und seinen Weg geht über diese Brücke zur Unendlichkeit. Mit jedem Schritt ein kleines Stück Geborenwerden, Altern und Sterben hinter sich lassend.

   Der Alte erhält – nach der fast fünfstündigen Winterwanderung mit seiner Lu – überraschend Besuch vom Meister der Dichtung, von Theodor Storm, dem Lyriker, dieser spricht zu ihm, zu Uodal, vom ‚Beginn des Endes‘:

   „Ein Punkt nur ist es, kaum ein Schmerz,
   Nur ein Gefühl, empfunden eben;
   Und dennoch spricht es stets darein,
   Und dennoch stört es mich zu leben.

   Wenn du es andern klagen willst,
   So kannst du’s nicht in Worte fassen;
   Du sagst dir selber: ‚Es ist nichts!‘
   Und dennoch will es dich nicht lassen.

   So seltsam fremd wird dir die Welt
   Und leis verlässt dich alles Hoffen;
   Bis du es endlich, endlich weisst,
   Dass dich des Todes Pfeil getroffen.“

   „Ich danke dir“, spricht Uodal zu Theodor, „mein Freund und Meister, du sprichst mir tief aus meinem eignen Herzen! Balsam sind deine Worte dem Ver-Wehenden, dem über die Brücke schreitend Erlöschenden! Da! Der Regenbogen!... Vorbei, gewesen…“

   Heute Morgen beim Frühstück hat Uodal seiner Lu die bisher vorliegenden Verse seines letzten Liedes vorgesungen und diese zum Schluss ergänzt mit den Worten des Erwachten zur ‚Auflösung’. Hier ist sie zu Hause, die Heilige Melancolia, durch das Tor der Auflösungserkenntnis betritt sie den Geist, das Herz, und von hier aus wandelt sie durch die Erkenntnis des Schreckens zur Erkenntnis des Elends: Es ist das leibhaftige, verkörperte Erkennen des Elends und äussert sich körperlich in den Tränen der Melancolia. Die nun durch die Tränen geläuterte Erkenntnis wendet sich ab vom Elenden und hegt bloss noch den einen Wunsch nach vollständiger Befreiung.

   Nachdem der Alte auf diese Weise den Weg bis zum Befreiungswunsch gegangen ist, übt er die ‚nachdenkende Betrachtung der drei Daseinsmerkmale’ – gipfelnd in der ausführlichen ‚Leerheitsbetrachtung‘ – bis zum Aufsteigen der ‚Gleichmutserkenntnis‘.

   Und Uodal erkennt auch den Gleichmut als vergänglich, die Tatsache der Vergänglichkeit als das Elend, und das Elend als unpersönlich, und so realisiert er (das heisst: das ‚Geist-Körper-System’) – wieder einmal – die Frucht des bisherigen spirituellen Weges: Ein (mehr oder weniger) kurzer Moment des Auf- und Durchatmens in vollkommener Freiheit. Äusserlich sich manifestierend in zweieinhalb Stunden des befriedeten und befreiten Wandelns im Wald.

 

   „Der Tod ist ewig unser Gefährte. Er ist immer zu unserer Linken, eine Spanne weit hinter uns. Der Tod ist der einzige weise Ratgeber, den ein Krieger hat. Immer wenn er glaubt, dass alles schief geht und seine Vernichtung droht, kann er sich an seinen Tod wenden und fragen, ob dem so ist. Sein Tod wird ihm sagen, dass er sich irrt, dass nichts von Bedeutung ist ausser der Berührung des Todes. Sein Tod wird ihm sagen: ‚Noch habe ich dich nicht berührt.“

   „Die Welt ist all das, was hier beschlossen liegt: das Leben, der Tod, die Menschen und alles andere um uns her. Die Welt ist unbegreiflich. Wir werden sie nie verstehen; wir werden niemals ihre Geheimnisse ergründen. Darum müssen wir die Welt nehmen, wie sie ist: als reines Mysterium. Die Dinge, die Menschen tun, können unter keinen Umständen wichtiger sein als die Welt. Darum nimmt der Krieger die Welt als unendliches Geheimnis und das, was die Menschen tun, als endlose Narretei.“

   „Ein Krieger soll seine Aufmerksamkeit auf die Verbindung zwischen ihm selbst und dem Tod konzentrieren. Ohne Reue oder Trauer oder Sorge soll er seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache richten, dass er keine Zeit hat, und seine Taten entsprechend fliessen lassen. Er soll dafür sorgen, dass jede seiner Taten sein letztes Gefecht auf Erden sein könnte. Es versteht sich von selbst, dass seine letzte Tat auf Erden seine beste sein sollte. So ist es gut, und es nimmt seiner Furcht den Stachel. Nur unter dieser Bedingung werden seine Taten die Macht haben, die ihnen gebührt. Sonst werden sie, solange er lebt, die Taten eines Narren sein.“

   (Nagual)