Der Krieger
„Der Trumpf des Kriegers ist, dass er
glaubt, ohne zu glauben. Aber natürlich kann ein Krieger nicht einfach sagen,
er glaubt, und es damit bewenden lassen. Das wäre allzu leicht. Einfach
glauben, ohne sich anzustrengen, würde ihn von der Pflicht entbinden, seine
Situation zu überprüfen. Immer wenn sich ein Krieger aufs Glauben einlassen
muss, tut er es aus freier Wahl. Ein Krieger glaubt nicht, ein Krieger muss
glauben.“
„Der Tod ist ein unentbehrlicher Bestandteil
des Glaubenmüssens. Ohne das Bewusstsein vom Tode ist alles gewöhnlich, banal.
Nur deshalb, weil der Tod uns umschleicht, ist die Welt ein unergründliches
Mysterium. Auf diese Weise glauben zu müssen ist Ausdruck der innersten freien
Wahl eines Kriegers.“
„Das Selbstvertrauen des Kriegers ist nicht
das Selbstvertrauen des gewöhnlichen Menschen. Der gewöhnliche Mensch sucht
Sicherheit in den Augen des Betrachters und nennt es Selbstvertrauen. Der
Krieger sucht Makellosigkeit in seinen eigenen Augen und nennt es Demut. Der
gewöhnliche Mensch ist an seine Mitmenschen gebunden, während der Krieger nur
an das Unendliche gebunden ist.“
„Die Demut eines Kriegers ist nicht die
Demut eines Bettlers. Der Krieger beugt den Kopf vor niemandem, doch gleichzeitig
erlaubt er niemandem, den Kopf vor ihm zu beugen. Der Bettler dagegen fällt bei
jeder Gelegenheit auf die Knie und kriecht vor jedem, den er höher gestellt
glaubt, im Staub. Gleichzeitig verlangt er aber, dass ein Geringerer vor ihm im
Staub kriecht.“
„Nicht verfügbar zu sein bedeutet für den
Krieger, dass er die Welt, die ihn umgibt, nur behutsam berührt. Vor allem
vermeidet er achtsam, sich oder andere zu erschöpfen. Er benutzt Menschen
nicht und presst sie nicht aus, bis sie zum Nichts schrumpfen, besonders nicht
Menschen, die er liebt.“
(Nagual)
Schamanenweihe?
Adrian ist mit von der Partie und auch Hanspeter
und Bruno (bei ihm bin ich mir nicht sicher, ob ich seinen Namen richtig
erinnere). Wir werfen alle vier einen LSD-Trip. Bruno kommt in meinem weiteren
Erleben nicht vor.
Das erste was geschieht ist, dass Hanspeter
sich als vor ein Gericht gestellt erlebt. Adrian sitzt am Boden, ich auf dem
Sofa. Hanspeter steht zwischen uns und erlebt Adrian als den ihn dem Richter –
mir – zuführenden Ankläger. Er sieht hinter uns den Galgen stehen, an welchem
er aufgehängt werden soll. Hanspeter legt nun ein langes und umfassendes
Geständnis, eine richtiggehende Beichte seiner Sünden und Verfehlungen, ab und
kommt selber zum Ergebnis, dass seine Verurteilung vollkommen gerechtfertigt
ist. Er weint und wir versuchen ihn davon zu überzeugen, dass dies alles nicht
echt sei, nicht wahr, aber wir haben damit keinen Einfluss auf ihn (wenn ich
das aus heutiger Warte, mit dem Erfahrungswissen aus dem christlichen Kontext
anschaue, dann muss ich sagen: eine eindrücklichere Beichte habe ich nie wieder
erlebt). Er erfährt schliesslich vollkommene Vergebung, der Galgen bleibt leer
(nicht lange danach wird Hanspeter alle seine Beziehungen zu den Drogen
konsumierenden Freunden abbrechen, von Bern wegziehen und eine Ausbildung
beginnen, die er mit Erfolg abschliesst und dann auch bis zur Pensionierung
auf diesem Beruf gearbeitet hat).
Ich sitze immer noch auf dem Sofa und sehe
auf meine Füsse. Da lösen sich diese auf und ich sehe nur noch den Boden. Mein
Blick geht langsam meinen Beinen entlang nach oben. Die Beine lösen sich auf,
wo immer mein Blick hinfällt da ist kein Körper mehr. Der Rumpf, Brustkorb, Arme…
nichts mehr da. Ich sehe in aller Deutlichkeit ein leeres Sofa, niemand sitzt
darauf, mein Körper ist verschwunden.
Nicht verschwunden ist aber das (Selbst-) Bewusstsein:
‚Ich’ bin immer noch da, körperlos. Das hält eine Weile so an (wie stets bei solchen
Erfahrungen gibt es kein Zeitempfinden mehr).
Dann sehe ich auf dem Teppich am Boden vor
mir einen grossen Haufen Puzzleteile. Ich schaue sie mir etwas genauer an und
erkenne, dass sie meinen Körper abbilden. Nun wird mir bewusst, dass ich dieses
Puzzle zusammenzustellen habe, wenn ich wieder ‚ganz’ werden möchte. Ich weiss
auch mit Bestimmtheit, dass, sollte auch nur ein Teil fehlen, dies erhebliche
Schwierigkeiten für mich bedeuten würde, wenn nicht gar, dass ich sehr kaputt
und unheil sein würde. Also mache ich mich daran das Puzzle zusammenzusetzen.
Und es gelingt. Kein einziges Teil fehlt. Als ich das letzte Teil einfüge, ist
mein Körper wieder sichtbar da, immer noch auf dem Sofa sitzend.
Einige Zeit später besuche ich zusammen mit
Adrian einen Vortrag an der Uni Bern von Dr. Detlef Kantowsky zum Thema
‚schamanisches Heilen in Urvölkern‘. Organisiert wurde dieser Vortrag von Mirko
Frýba. Es geht vor allem um schamanische Methoden der Heilung von Psychosen und
Schizophrenie, ein sehr spannendes Thema.
Im Verlauf dieses Abends beschreibt Detlef
Kantowsky auch eine afrikanische Zeremonie, in welcher aus einem Kandidaten ein
Lehrling des schamanischen Medizinmannes wird – oder eben auch nicht. Der ganze
Ablauf des (inneren) Erlebens ähnelt aufs Haar meinem Erleben unter LSD. Auch
der Schamanenkandidat steht unter Drogen. Bei ihm sind es jedoch nicht
Puzzleteile, die er zusammensetzen muss, sondern alle seine Knochen (was ich
geneigt bin als einen kulturellen Unterschied zu sehen). Gelingt es ihm, sein
Skelett zusammenzusetzen ohne dass ein Stück fehlt, dann ist er als Lehrling
angenommen, wenn nicht, sucht der Schamane weiter nach einem Schüler.
Ich sagte: ‚Einige Zeit später…’, das ist
vielleicht nicht korrekt. Es kann sein, dass dieser Vortrag stattgefunden hat
bevor ich das beschriebene Erlebnis unter LSD machte. Es ist mir nicht mehr
möglich, die Reihenfolge mit Gewissheit zu bestimmen. Doch wie auch immer: Das
Erleben hat sich mir tief eingeprägt als eine Erfahrung von Relativität
bezüglich der ‚Wirklichkeit’ der Existenz. Nach solchen Erlebnissen, wie den
hier beschriebenen, ist es kaum mehr möglich, an eine – und nur eine –
feststehende objektive (psychenunabhängige) Realität zu glauben. Soviel also
zum Thema ‚ekstatisches Erleben’.
(Lied)
Mirko Frýba schreibt dazu: „Ekstase enthält etwas von Grenzüberschreitung, Erhöhung des Lebensgefühls, Entzücken und Bewusstseinserweiterung. Im populären Verständnis verbindet man jedoch Ekstase auch mit Rausch, Überspanntheit, Erregung oder gar Wahn; in der Umgangssprache versteht man unter Ekstase, ‚wenn jemand ausgeflippt ist’. Alles in allem erscheint Ekstase als etwas ausserhalb der rationalen Kontrolle des Alltäglichen. Von einem engstirnigen Gesichtspunkt aus stimmen alle die herabwertenden Kennzeichnungen mit der Bedrohung überein, die die Ekstase für den Sachunkundigen darstellt. Aber man kann bei vielen Menschen auch ganz entgegengesetzte, genauso falsche Beurteilungen antreffen. Sie halten alles Ausgeflippte für gut, weil es gegen die heutzutage so ‚normale’ Abstumpfung und Langeweile wirkt. Ekstase heisst für sie: Kopf abschalten, alle rationalen Grundsätze über Bord werfen, sich verlieren, jede Vorsicht und jede Rücksicht aufgeben, sich selbst wie auch die anderen sentimental an irgendetwas ausliefern – ‚einfach ausflippen’. Dies alles hat jedoch nichts zu tun mit der genussvollen, erholsamen Schönheit der friedlichen Ekstase.“
Diese friedliche Ekstase, die musste ich in der Folge erst noch richtig kennen- und schätzen lernen. Da Drogen hierzu völlig ungeeignet und zudem ein Spiel mit dem Feuer sind, habe ich nach einem Meditationsretreat 1981 (ausser Marihuana) nie mehr psychoaktive Substanzen zur Bewusstseinserweiterung verwendet, sondern mich intensiv der meditativen Geistesentfaltung zugewendet.
„Als Lehrer sollte ein Krieger die Möglichkeit
lehren, zu handeln, ohne zu glauben, ohne Belohnung zu erwarten – einfach
drauflos zu handeln. Sein Erfolg als Lehrer hängt davon ab, wie gut er seine Schützlinge
in dieser Hinsicht leitet.“
„Um dem Schüler zu helfen, seine persönliche
Geschichte auszulöschen, zeigt ihm der Krieger als Lehrer drei Techniken: wie
man die Selbstgefälligkeit ablegt, wie man Verantwortung für seine Taten übernimmt
und wie man den Tod als Ratgeber nutzt. Ohne die förderliche Wirkung dieser
drei Techniken würde das Auslöschen der persönlichen Geschichte zu Wankelmut
und Flüchtigkeit führen, zu unnötigen Zweifeln an sich selbst und den eigenen
Taten.“
„Ein Krieger bekennt sich zu seinem Schmerz,
aber er schwelgt nicht darin. Die Stimmung eines Kriegers, der in das Unbekannte
zieht, ist nicht Traurigkeit; im Gegenteil, er ist fröhlich, weil er sich
durch sein Glück begnadet fühlt, weil er auf seinen makellosen Geist vertraut
und vor allem, weil er sich seiner Tüchtigkeit bewusst ist. Die Fröhlichkeit
eines Kriegers kommt aus der Annahme seines Schicksals und aus der ehrlichen
Einschätzung dessen, was vor ihm liegt.“
(Nagual)
Die
Droge die der langgliedrige Grüne mich einzunehmen geheissen hatte trug den Namen
T-Raumzeit, sie wirkte augenblicklich. Weit entfernt lispelte, Friedrich
Nietzsche zitierend, seine Stimmestimmestimme: „Unter friedlichen Umständen
fällt der kriegerische Mensch über sich selber her.“
Die Türe öffnete
sich und ich trat ein. Das war nun also das Haus ‚Weekendweg 16‘. Die Adresse
stand auf dem kleinen Zettel den ich gestern auf der Parkbank gefunden hatte.
Ich läutete. Ein bleicher blondgelockter Jüngling öffnete und ohne Umstände
hiess er mich eintreten. Dicke Rauchschwaden füllten den T-Raum, am Boden
sassen drei Gestalten. Ich nahm Platz auf einem Kissen mit meinen Initialen.
Eine schwere, schwarze Ebenholzpfeife wurde mir gereicht. Ich zog den Rauch
tief in die Lungen und trat ein.
Dicke Rauchschwaden füllten den Raum, am
Boden sassen drei Gestalten. „Nimm Platz“, sagte der Kahlköpfige. Ich setzte
mich auf das mit dem Zeichen ‚SV‘ verzierte
Kissen und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Was hatte ich hier zu suchen?
Wieder wurde mir
die Pfeife gereicht, ich zog tief und trat ein. Dicke Rauchschwaden füllten den
Raum, am Boden sassen drei Gestalten. Ich setzte mich. „Setz dich nur hin“,
sagte der Alte, „ich bin der Nagual, ich bin deine Heimat, und du bist mein
Erbe. Was willst du?“ fragte er. Ich wusste es „nicht…s“, stotterte ich. „Das
ist gut“, sagte er, „du kannst bleiben.“
Wieder wurde mir
die Pfeife gereicht ich zog tief. Wir sassen auf einer saftig grünen Wiese
mitten zwischen Pferden und assen die Pilze, die wir an eben der Stelle soeben
gefunden hatten. Wir lachten. Er wird bald hier sein meinte die Königin der
Nacht.
Was trennt mich
von dir Königin der Nacht? Die Zeit wird sich erfüllen, wie sie’s immer getan.
Was trennt mich von dir Königin der Nacht? Ich komme!
„Da kommt er ja
schon!“ rief die Königin. Es erstaunte mich auf Menschen zu treffen. Sie
winkten mir zu, ich begab mich zu ihnen. „Setz dich“, sagte das Mädchen. Ich
setzte mich auf das offenbar mir zugedachte Kissen gegenüber dem Mädchen. Zu
meiner linken sass ein kahlköpfiger Mann und zu meiner rechten sass ein Greis
mit silbernem Haar und wallendem Bart.
„Du hast uns
also gefunden“, sagte der Alte. „Wir können beginnen“, sagte der Kahlköpfige.
Die Königin lächelte.
Was trennt mich
von dir, Königin der Nacht? Zeit? Was trennt mich von dir, Königin der Nacht?
Erfüllung? Was trennt mich von dir, Königin der Nacht?
Ich komme!
Die Königin
lächelte.
Der Alte war
schön. „Hast du den Samen fallengelassen?“ fragte er mich. Ich begriff nicht.
„Du musst den Samen fallen lassen, wenn du Blumen erblühen lassen willst.“ Der
Alte ist schön, dachte – ich – konnte mich nicht konzentrieren. Was für einen
Samen?
„Es erblühen
Stundenblumen daraus, schöne, schneeweisse Stundenblumen wenn du den Samen
fallen lässt, schneeweisse Blumen, schöne, wunderschöne schneeweisse Totenblumen.“
Die Königin
weinte. Ganz still war er gestorben, der Alte, der Nagual. Der Kahlköpfige schaufelte das Grab, in das
wir den Alten nun legten und ich begriff.
Die Königin
öffnete mein Herz und entnahm ihm den Samen. Schweigend gab sie ihn mir, den
Samen, den Samen ‚Sehnsucht‘. Jetzt sah ich die Lehre des Nagual: Leer war mein
Herz, den Samen ‚Sehn-Sucht‘ in Händen haltend, und gänzlich entleerte sich nun
mein Geist, als ich den Samen auf sein Grab fallen liess.
So birgt sein
Grab Leben, so birgt der Tod Leben!
Was trennt mich
von dir?
Eine dumpfe
Stimme traf auf mein Ohr: „Könntest du nun auch nach Hause gehen, wir wollen
schliessen!“
Nach Hause…
Totenblumen… ich hob den Kopf von der Tischplatte, bezahlte den genossenen Wei(h)n und erhob mich diesen
rauchgeschwängerten T-Raum zu verlassen. Ein bleicher blondgelockter Jüngling
hielt mir die Türe auf und wünschte mir eine gute Nacht.
Ich machte mich
auf den Weg. Nach einigen hundert Metern bemerkte ich einen Begleiter. Ich
schaute auf: Der Alte ging neben mir. Wir blieben stehen und schauten uns an. Er sprach:
„Nicht gibt es
einen Schöpfer für die Daseinselemente, doch keines von ihnen entsteht
ursachlos“.
Er schaute mich
an, ich wusste nichts zu erwidern.
Er begann noch
mal: „Du kamst nicht aus der Vergangenheit und gehst nicht in die Zukunft
hinüber, nicht hast du Bestand in Vergangenheit oder Zukunft, es sei denn in
verkehrten und unwirklichen Vorstellungen. Du bist ohne ein handelndes oder
leidendes Prinzip, du bist wurzellos zu Beginn, Mitte, und Ende, du bist
herrenlos nicht eigen und eigentumslos, du wirst ständig aufgestört durch das
Eindringen solcher Diebe wie Wahnsinn, Furcht, und Verzweiflung, ständig
ausgesetzt dem Fallen und Stürzen, der Gebrechlichkeit, der Auflösung und
Vernichtung, und du bist eine Brutstätte von hunderttausend verschiedenen
Krankheiten.“
Endlich war ich
zu Hause.
„Ein
Krieger braucht keine persönliche Geschichte. Eines Tages findet er, dass er
sie nicht mehr braucht, und er wirft sie weg.“
„Die persönliche Geschichte muss stets erneuert
werden, indem man Eltern, Verwandten und Freunden alles erzählt, was man tut.
Ein Krieger dagegen, der keine persönliche
Geschichte hat, braucht keine Erklärungen zu geben; niemand ist böse oder
enttäuscht über seine Taten. Und vor allem, niemand legt ihn mit Gedanken und
Erwartungen fest.“
(Nagual)
