Der Christus und Du

 

Leben


   Das wahre Leben, das Lebenswasser, was soll das sein? Wie kann sich dieses wahre Leben dir geben? „Wer sucht der findet“, hat ein Ewigkind vor zweitausend Jahren gesagt. Wenn du das wahre Leben aufrichtig suchst, dann wird es sich dir offenbaren, es wird sich dir geben, du kannst es als ein Geschenk entgegennehmen. Denn machen kannst du es nicht. Suchen tust du es, indem du deine Herzenstüre aufschliesst und in dein Innerstes eingehst. Denn das wahre Leben ist nicht etwas oder jemand ausserhalb von dir, sondern es ist in dir, in deinem eigenen Inneren zu finden. „Das Reich Gottes ist inwendig in euch“, hat dasselbe Ewigkind gesagt. Also suche Frieden, Freiheit, Liebe nicht ausserhalb deiner selbst, suche nicht dort, wo es nichts zu finden gibt, suche an der Quelle, suche in deinem Herzen.

   Je näher du der Quelle kommst, umso mehr Erinnerungen werden aufsteigen. Erinnerungen an längst Vergessenes, Erinnerungen an vor langer Zeit bereits Erlebtes. Diese Erinnerungen, vielleicht vage, ohne Worte, ohne Bilder, weniger formulierte als vielmehr gefühlte Erinnerungen, sind die Führer und Wegweiser auf deiner Suche. Was du suchst, Weg, Wahrheit, Leben, war stets da, hast du nie verloren, nur vergessen. Was du schliesslich findest, hier und jetzt findest, war immer da, immer frei verfügbar.

   Es gab wahre, verwirklichte Menschen, ich nenne sie Ewigkinder, zu allen Zeiten. Der Christus (der ‚Gesalbte‘) gilt den Christen als ein solcher. Der Buddha (der ‚Erwachte‘) den Buddhisten. Der Nagual (‚der Wohltäter‘) den mexikanischen Schamanen. Sie und viele andere waren und sind Repräsentanten von Liebe und Freiheit. Sie sind Wegweiser für dich. Ihr Wort kann Führung sein für dich, kann dir Leben bringen in dein Gefängnis. Ihr Wort, ihre Lehre, ihr gelebtes Vorbild vermögen dir Kraft zu geben, Mut, deine Türen zu öffnen und dieselbe Liebe, dieselbe Wahrheit in deinem eigenen Inneren zu finden und ausströmen zu lassen. Sobald das geschieht, steigt der Pegel des Lebenswassers in deinem Gefängnis und wird dich zur Freiheit führen, ins volle, wahre, echte, unverfälschte Leben.

   Die Auferstehung aus dem Gefängnis des Todes geschieht in dir, an dir, mit dir, hier und jetzt. Sie ist der Lohn für deine mutige Suche, für deine Bereitschaft, die Herzenstüre zu öffnen, allen Risiken zum Trotz.

   Er, der Gesalbte, er, der Erwachte, er, der Wohltäter, sie leben in deinem Herzen, und dort findest du sie. In deinem eigenen Erleben findest du sie. Sie sind nicht getrennt von dir. Mögen sie zu deinem Weg des wahren Lebens, mögen sie zu deinem Lichtpfad werden!

   Der Weg ist nicht getrennt von deinen Schmerzen, weder von den körperlichen, noch von den psychischen. Mit dieser Erfahrung schwindet alles Leiden am Schmerz. Wenn selbst Schmerzerfahrungen, nicht anders als Wohl- und Glückerlebnisse, zum Weg des wahren Lebens gehören, ja, der Weg des wahren Lebens sind, dann fällt der Widerstand gegen den Schmerz von dir ab und damit das existenzielle Leiden am Schmerz.

   Du erlebst den Weg nicht als gesondert von dir. Er ist kein Geist, der von dir Besitz ergreift, kein von dir getrenntes Wesen innerhalb oder ausserhalb von dir. Der Weg, das bist du, als genau der Mensch, der du bist. Mit allen Freuden und allem Schmerz, mit allen Befähigungen und allen Mängeln und Schwächen. Sobald du ihn in dir erkennst, bist du eins mit ihm und mit dir selber. Dann freust du dich über deine Fähigkeiten und Kräfte ohne Überheblichkeit und du akzeptierst deine Begrenzungen und Schwächen ohne Verurteilung.

   Du bist wahrer Ausdruck des Lebens, du bist einer seiner Wege. Das wahre Leben ist in dir und je mehr du darin aufgehst, umso mehr bist du eine Personifikation, eine Menschwerdung des Ewigen. Du bist es zu jeder Zeit, bist es niemals nicht gewesen, aber Dunkelheit lag über dem Weg, Lügen versperrten die Sicht auf die Wahrheit und die Angst vor dem Tod hinderte das Leben daran ekstatisch aufzusteigen. Leben und Tod lassen sich jedoch nicht trennen. Jedes Leben trägt seinen Tod in sich. Fürchtest du den Tod, dann fürchtest du auch das Leben, und fürchtest du das Leben, dann fürchtest du auch den Tod.

   Die wahre Freiheit aber ist ohne Anfang und ohne Ende. Sie ist deine wahre Heimat ohne jemals dein zu sein. Dein vergängliches, dem Tod unterworfenes Wesen wird niemals in die-ses Reich eingehen, weder als Körper, noch als ewige Seele, noch als Geist. Nur im Erwachen zu vollständiger Selbstlosigkeit verwirklicht es sich. Willst du es als Besitzender besitzen, dann entzieht es sich dir. Gib also jeden Anspruch darauf auf und lebe dein Leben hier und jetzt.

 

   „Ein Krieger muss das Gefühl entwickeln, dass er alles hat, was er für die ausserordentliche Reise seines Lebens braucht. Für einen Krieger zählt einzig, dass er am Leben ist. Das Leben an sich genügt, es erklärt sich selbst und ist vollkommen. Daher kann man ohne Anmassung sagen, dass es die Erfahrung aller Erfahrungen ist, am Leben zu sein.“ (Nagual)

   „In unserem Zeitalter hat die Ich-Es-Religion, riesenhaft aufgebläht, sich fast unangefochten die Meisterschaft und das Regiment angemasst. Das Ich dieser Relation, ein alles habendes, alles machendes, mit allem zurechtkommendes Ich, das unfähig ist, Du zu sprechen, unfähig, einem Wesen wesenhaft zu begegnen, ist der Herr der Stunde.“ (Martin Buber)

 

   Es gibt neben der Welt der Ich-Es-Erfahrung auch die Welt der Ich-Du-Begegnung. Wenn ich einem Menschen als meinem Du gegenüber stehe, dann ist er kein Ding unter vielen Dingen mehr, dann findet ein lebendiges Ich-Du-Ge-schehen statt. In dieser echten, tiefen Beziehung beurteile ich weder sein Äusseres noch sein Inneres. Wenn mein Denken ihn zu beschreiben und zu beurteilen beginnt, dann bin ich bereits wieder aus der Ich-Du-Begegnung in die Ich-Es-Erfahrung abgerutscht. Dies geschieht immer wieder, und es ist auch nicht zu vermeiden. Wichtig aber ist, dass ich lerne zu unterscheiden. Dass ich mich nicht in der Leblosigkeit der Welt der Dinge als in der lebendigen Welt der Beziehung wähne. Zwei Menschen begegnen sich in der Ganzheit ihres Wesens. Diese tiefe Ich-Du-Begegnung ist nur hier und jetzt möglich, sie ist Gegenwart, gegenwärtig sein. Sie kann nicht gemacht werden. Sie ist geschenktes Gegenwartsgeschehen. Sie ist das, was in diesem Augenblick der lebendigen Begegnung zwischen Ich und Du geschieht. Nicht nur dem Menschen können wir als unserem Du begegnen, jedes Geschöpf, ja die ganze Schöpfung kann uns aus der Leblosigkeit der Gegenständlichkeit des Etwas zum lebendigen Gegenüber werden und damit zur lebendigen Ich-Du-Begegnung.

 

   „Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen  Wesen gesprochen werden. Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“
  (Martin Buber)

 

   Während einem sinnlichen Naturerleben oder auch bei Sammlungsübungen haben wir möglicherweise intuitive Wahrnehmungen oder machen uns Gedanken über ein Etwas in oder hinter den Dingen. Es wird uns bewusst, dass dieses Etwas nur geistig sein kann. Etwas zeitloses, ewiges, das all das Zeitliche und Vergängliche umfasst und durchdringt. Mit unseren Sinnen nicht wahrnehmbar und doch gegenwärtig. Die durch unsere Sinne erlebten Dinge scheinen vor dem Hintergrund dieses geistigen Etwas wie transparent. Wir nehmen die Transzendenz der Schöpfung war. Damit dieses geistige Etwas nicht ein Ding unter vielen des Ich-Es-Erlebens bleibt, damit wir also mit ihm in eine lebendige Ich-Du-Beziehung treten können, muss es uns zum Wesen, zur Person, zum Du werden. Das ewige Du aber ist Gott.

   Ich kann dem ewigen Du Gottes begegnen im Geist des Gebets, der Meditation, der Kontemplation. Wenn diese auch geistig sind, so sind sie doch zeitlich. In ihnen kann sich mir Gott offenbaren, kann mich ansprechen, und ich kann ihm mit meinem ganzen Wesen und Sein antworten – in Gedanken, mit gesprochenen Worten oder in der Stille des Schweigens.

 

   „Das stille Wissen ist nichts anderes als direkter Kontakt mit dem Wollen.“ 
   (Nagual)

   „Der Mensch kann wohl tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.“ 
   (Arthur Schopenhauer)

   „Gott ist es, der das Wollen und Vollbringen wirkt, nach seinem Wohlgefallen.“
   (Bibel NT)


    Die Begegnung mit Gott kann auch in einer schlichten Begegnung mit einem Mitmenschen geschehen:

   „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, und seinen Mitmenschen  doch hasst, so ist er ein Lügner; denn wer seinen Mitmenschen nicht liebt, den er sieht, der kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht!“
   (Bibel)

   „Was immer ihr an einem meiner Geringsten getan habt – oder versäumt habt zu tun – das habt ihr mir getan – oder versäumt zu tun.
   (Christus)

 

   Ich denke, Franziskus von Assisi hat das nicht falsch gedeutet, wenn er im Geringsten nicht ausschliesslich den Menschen, sondern auch das Tier und letztlich die gesamte belebte Natur verstand. Was wir der Schöpfung und irgendeinem ihrer Geschöpfe antun, das tun wir Gott an. Gutes und Böses. Und was wir der Schöpfung und irgendeinem ihrer Geschöpfe zu tun versäumen, das versäumen wir Gott zu tun. Nicht weil die Schöpfung oder die Ge-schöpfe Gott wären, aber weil sie Gottes sind. In seinen Werken begegnen wir Gott.

   Auch in meiner eigenen Antwort an das ewige Du, das mir in der Welt – und als Welt – begegnet und mich anspricht, kann ich Gott begegnen: Insofern diese meine Wesensantwort eine Antwort der Liebe ist. Denn das Wesen Gottes ist Liebe.

 

   „Gefühle werden ‘gehabt’; die Liebe geschieht. Gefühle wohnen im Menschen; aber der Mensch wohnt in seiner Liebe. Das ist keine Metapher, sondern Wirklichkeit: die Liebe haftet dem Ich nicht an, so dass sie das Du nur zum ‘Inhalt’, zum Gegenstand hätte; sie ist zwischen Ich und Du. Wer dies nicht weiss, mit dem Wesen weiss, kennt die Liebe nicht, ob er auch die Gefühle, die er erlebt, erfährt, geniesst und äussert, ihr zurechnen mag. Liebe ist ein welthaftes Wirken. Wer in ihr steht, in ihr schaut, dem lösen sich Menschen aus ihrer Verflochtenheit ins Getriebe; Gute und Böse, Kluge und Törichte, Schöne und Hässliche, einer um den andern wird ihm wirklich und zum Du, das ist, losgemacht, herausgetreten, einzig und gegenüber wesend; Ausschliesslichkeit ersteht wunderbar Mal um Mal - und so kann er wirken, kann helfen, heilen, erziehen, erheben, erlösen. Liebe ist die Verantwortung eines Ich für ein Du; hierin besteht, die in keinerlei Gefühl bestehen kann, die Gleichheit aller Liebenden, vom kleinsten bis zum grössten, von dem selig Geborgenen, dem sein Leben in dem eines geliebten Menschen beschlossen ist, bis zu dem lebenslang ans Kreuz der Welt geschlagenen, der das Ungeheure vermag und wagt: die Menschen zu lieben.

    In allem Ernst der Wahrheit, du: ohne Es kann der Mensch nicht leben. Aber wer mit ihm allein lebt, ist nicht der Mensch.“

   (Martin Buber)