Befreiungswunsch



Den Geist befrein das möcht ich sehr

Von aller Knechtschaft Wiederkehr

Das Bewusstsein frei und leer

So hätt ichs gerne mehr und mehr

 

Ich sage selber mir: Tu‘s jetzt!

Doch wer soll was? – Ich bin verletzt…

Ich bin ich bin ich bin ich bin

Und finde deshalb nicht den Sinn

 

Leer von Ich und leer von Mein

Leer von solchem Trug und Schein

Ist des Erwachten Sinn und Sein

Und sein Herz und Geist sind rein

 

Doch in mir siehts anders aus

In diesem Geist-und-Körper-Haus

Wohnt dünkelhaft und fett

Ein Ich das überhaupt nicht nett

 

Ich weiss das ist die Illusion

Und üb seit vielen Jahren schon

Doch immer noch sitzt sie im Herzen

Und schenkt täglich treu mir Schmerzen


Die Illusion von Ich und Mein

Das ist die wahre Wurzel-Pein

Sie will mal dies dann will sie das

In ihr entstehen Gier und Hass

 

Ich setz mich hin und werde still

Denn alles was ich wirklich will

Ist Friede und Befreiung

Von der Ich-Umklammerung

 

So möge denn zum Segen mir

Und aller Wesen so auch dir

Die Wahrheit sich im Herz entfalten

Und es befrein von allem Halten

 

Das wünsch ich mir

 

   „Um ein Krieger zu sein, ist es nicht damit getan, einer sein zu wollen. Vielmehr ist es ein endloser Kampf, der bis zum allerletzten Moment unseres Lebens währt. Niemand wird als Krieger geboren, wie auch niemand als gewöhnlicher Mensch geboren wird. Wir machen uns zu dem einen oder dem anderen.“

    „Zu viel Nachdenken über das eigene Selbst bewirkt eine furchtbare Ermüdung. Ein Mensch in dieser Situation ist taub und blind für alles andere. Die Müdigkeit selbst hindert ihn, all die Wunder um ihn her zu sehen.“

   „Wenn man sich wichtig nimmt, wird man schwerfällig, unbeholfen und eitel. Um ein Krieger zu sein, muss man leicht und beweglich bleiben.“

    (Nagual) 


   Von dem Moment an, als du das Antlitz der Freiheit und die Möglichkeit, dass es sie tatsächlich geben könnte, zum ersten Mal zu ahnen beginnst, wird dir, zuerst diffus und schwach, dann immer stärker werdend, eine tiefe und bisher unerfüllte Sehnsucht im Herzen bewusst werden.

   Die Freiheit zu ahnen, oder gar sie zu sehen, wird dir nicht mehr genügen. Was hilft es dir, sie quasi als ein Ding vor dich hingestellt wahrzunehmen? Und was hülfe es dir, sie zu verehren, oder sie gar als Göttin anzubeten?

   „Den Geist befreien“, dieser Gedanke steigt nun fordernd in deinem erwachenden Geist auf, „das möchte ich sehr“. So beginnst du zu forschen, was es denn sei, dass deinen Geist gefangen hält, und du erinnerst dich an die beiden Abgründigen, die Gier und den Hass, und du erkennst, dass diese beiden es sind, die den Geist immer wieder gefangen nehmen und unter sich selber versklaven.

   Von aller Knechtschaft Wiederkehr dieser beiden Abgründigen möchtest du den Geist befreien und am liebsten ihn für immer von ihnen frei halten. „Das Bewusstsein frei und leer, so hätt‘ ich‘s gerne, mehr und mehr“, so erkennst du.

   Immer wenn ich selber in meinem Reifeprozess –  nichts anderes ist es, von dem wir hier sprechen: Der Reifeprozess des Menschenwesens – immer also, wenn ich an diesem Ort meiner persönlichen Menschwerdung, beim Befreiungswunsch, anlange, sage ich selber mir: „Tu’s jetzt!“

   Doch oft schon im nächsten Augenblick verlässt mich der Enthusiasmus, verlässt mich der Mut, und Zweifel steigen auf in meinem Geist und ich frage mich: „Wer soll was?“ und mit dem Gedanken „Ich bin verletzt“ falle ich in die Opferrolle.

   Sollte es dir auch immer wieder so ergehen, dann wende dich einmal mutig und konkret diesem Zweifel zu und untersuche ihn. Du wirst bald einmal zu erkennen vermögen, dass die Stimme des Zweifels eine weitere Stimme ist, die aus dem Abgrund zu dir hinauf tönt. So ist es: Der Zweifel ist ein weiterer abgründiger Verführer zur Opferrolle, zur Sklaverei, und als solcher ein Verhinderer der Befreiung.

   Hier aber bleib wiederum am Ball, gib ihn nicht auf, deinen Wunsch nach Befreiung. Du hast den Weg zur Freiheit betreten, und die einzige lohnende Herausforderung ist es, seine ganze Länge zu gehen.

   Es ist dir klar, dass die Stimmen aus dem Abgrund kommen, und plötzlich geht dir auf, dass du gar nicht weisst, wer oder was denn dieser Abgrund eigentlich ist, der da mit den Worten der Gier, des Hasses und des Zweifels zu dir spricht. Die Stimmen, so wird dir bewusst, die hast du erkannt, nicht aber den Sprechenden. Also forschst du weiter, forschst du tiefer, was zur Folge hat, dass der Abgrund sich langsam aber sicher ertappt fühlt und sich ängstigt vollständig entlarvt, und vielleicht gar umgebracht, getötet zu werden. In seinem Wunsch nach Leben, nach Wirklichkeit, hörst du ihn nun lautstark schreien: „Ich bin! Ich bin!“

   Aber wie erschrickst du jetzt: Es ist eindeutig deine eigene Stimme, die hier schreit, du selber bist es, der Angst hat, getötet zu werden, nicht mehr zu existieren, sein Leben zu verlieren, und aus ebendieser Angst heraus schreist und propagierst du so lautstark nicht allein dein Sein, sondern unmissverständlich dein Ich-sein.

   Und noch einmal gräbst du tiefer, und schliesslich stösst du auf deine felsenfeste Überzeugung, dass du ein autonomes ‚Ich‘ oder ‚Selbst‘ seist, das von allen anderen ‚Ichs‘, von allem andern Leben um dich herum unabhängig existiere und es fällt dir wie Schuppen von den Augen: „Ich bin! Ich bin! Und finde deshalb nicht den Sinn!“

   So, da sind wir nun bei des Pudels Kern angelangt, beim ‚Ich‘. Das ‚Ego‘, wie wir heutigen oft sagen, der Egoismus, die Ich-Zent-riertheit, die Sucht danach, ein unabhängiges, unbedingtes ‚Selbst‘ zu sein: Das ist das Wesen des Abgrunds, oder, im doppelten Sinne, der eigentliche Grund des Abgrunds. Das ‚Ich‘ ist der Grund im Sinne von Ursache aller Abgründigen wie Gier, Hass und Zweifel (und andere mehr). Es ist aber, noch ein wenig tiefer geschaut, auch der Grund für mein Erleben des Abgrunds und des Abgründigen überhaupt. Oder:  Das ‚Ich‘ ist der Grund seiner selbst. 

   Nun wird es wohl Zeit, dass wir gemeinsam klären und uns darauf einigen, wovon wir überhaupt sprechen, wenn wir vom ‚Ich‘ sprechen. Lass mich dazu eine kurze Erklärung geben:

   Der Nagual spricht von der Notwendigkeit des „Sprengens der Ketten der Selbstbetrachtung“, der Christus spricht von der Notwendigkeit der „Selbstverleugnung“, und der Buddha spricht von der Notwendigkeit der „Nicht-Ich-Einsicht“.

   Allen diesen drei Weisen gilt die Selbstzentriertheit als Gefangenschaft, Dunkelheit und Schlaf. Was wir suchen und dringend benötigen, ist Befreiung aus dem Gefängnis, Erleuchtung statt Verdunkelung, Erwachen aus dem (Alb-) Traum. Von Menschen wie ihnen und vielen weiteren Weisen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft heisst es, und wird es heissen: Leer von Ich und leer von Mein, leer von solchem Trug und Schein, ist des Erwachten Sinn und Sein, und sein Herz und Geist sind rein.

   Du denkst nun vielleicht: „Das klingt ja alles schön und gut, doch in mir sieht’s anders aus: In diesem Geist-und-Körper-Haus wohnt dünkelhaft und fett ein Ich das überhaupt nicht nett. Sag mir doch mal, wie ich mich denn nun von mir selber befreien soll und kann! Ich will mich ja schliesslich nicht umbringen indem ich Suizid begehe! Ist eine solche Rede nicht schlicht und einfach unverständlicher spiritueller Schwachsinn?“

   „Nein“, antworte ich dir, „es ist kein Schwachsinn und es geht auch überhaupt nicht darum, dass du dich als Person, als Mensch, ausradieren sollst. Vom hier diskutierte ‚Ich‘ sage ich: Ich weiss, das ist die Illusion und üb‘ seit vielen Jahren schon, doch immer noch sitzt sie im Herzen und schenkt täglich treu mir Schmerzen.

   Aber nicht, mich umzubringen, übe ich seit vielen Jahren schon, sondern die Überwindung der Selbstsucht, des Stolzes, und des Dünkels besser oder schlechter oder gleich wie ein anderer Mensch zu sein.

   Die Identifikation meiner Person mit der Vorstellung ich existierte als ein autonomes, von allen anderen Wesen und von meiner Umwelt überhaupt abgetrenntes, losgelöstes, unabhängiges Menschenwesen, sowie die Inbesitznahme aller Dinge durch dieses vorgestellte, bedingungslose ‚Ich‘ als ‚mein‘: Davon loszukommen, das ist es, was ich tagtäglich bei jeder Begegnung, in jeglichem Erleben übe, denn die Illusion von Ich und Mein, das ist die wahre Wurzel-Pein!

   Ja, eine blosse Illusion ist dies, eine Einbildung, ein Wahn, vielleicht eine wohl phantasievolle Vorstellung aber keine Wirklichkeit. Und sie will mal dies, dann will sie das: In ihr entstehen Gier und Hass.

   „Und“, fragst du mich, „was nützt dir diese Erkenntnis, so es denn wirklich eine solche sein sollte? Und wie gedenkst du, diesem Ich-Machen und Mein-Machen zu entkommen?“ Das mein Guter kann ich dir gerne sagen:

   Ich setz’ mich hin und werde still. Meditieren nennt sich das, sich besinnen. Denn alles was ich wirklich will, ist Friede und Befreiung von der Ich-Umklammerung.

   So möge denn zum Segen mir und aller Wesen, so auch dir, die Wahrheit sich im Herz entfalten und es befreien von allem Halten!  Das wünsch ich mir. Das ist mein Befreiungs-wunsch für alle Lebewesen.  

   Der Befreiungswunsch stellt sich ein infolge der tief erlebten und erkannten Vergänglichkeit und der durch diese bedingten Unzulänglichkeit aller Dinge, sowie der ebenso tief erlebten und erkannten Sterblichkeit und Leidunterworfenheit aller fühlenden Wesen.

   Im Licht der Einsicht in die Leerheit und in unsere, sich aus der Leerheit – dem Fehlen eines unbedingten und bedingungslos über Vergänglichkeit, Alter, Krankheit und Tod gebieten könnenden ‚Ichs‘ – ergebenden vollständigen Machtlosigkeit dieser existenziellen Wirklichkeit gegenüber, sucht der Geist einen Ausweg aus diesem Dilemma.

   Um diesen Ausweg zu finden beginnt er die drei Daseinsmerkmale ‚Vergänglichkeit‘, ‚Leidunterworfenheit‘ und ‚Unpersönlichkeit‘ in vielfältiger Weise zu ergründen, zu reflektieren, zu meditieren (was die eigentliche buddhistische Meditation darstellt).

   Auf diesem Weg der ‚Wahrheitsergründung‘ gelangt der Geist schliesslich zur ‚Gleichmutserkenntnis‘, zum umfassenden Gleichmut hinsichtlich aller Daseinsphänomene. Dieser nun stellt sozusagen das Sprungbrett zum Erwachen dar: Von hier aus kann jederzeit die erste Verwirklichung von Nibbana stattfinden, der sogenannte und oben bereits erwähnte Stromeintritt.